Linsenkunst wandelt über die Floating Piers

Große Erwartungen

Schon seit Wochen freute ich mich darauf, dass ich die „Floating Piers“ von Christo und seiner verstorbenen Frau Jeanne-Claude erleben darf. Immer wieder schaue ich mir die wunderbaren Zeichnungen von Christo zu diesem Projekt an und immer wieder bin ich fasziniert von der Idee, auf goldenen Stegen über das Wasser des Iseosees wandeln zu können.

Die Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude triggern einen Punkt bei mir, der in der Kreuzung aus "Raumgefühl", "Landschaftsarchitektur", "Vergänglichkeit", "Farbe" und "Erlebbarkeit" liegt. Bei den Floating Piers sind alle Aspekte vertreten.

"Die Vergänglichkeit eines Kunstwerks schafft ein Gefühl der Fragilität oder auch Verletzlichkeit und einen Drang, gesehen zu werden; durch sie ist das Fehlen präsent, weil wir wissen, dass es schon morgen nicht mehr da ist."

Christo und Jeanne-Claude

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Angekommen in der Realität

Vor Ort ist es aber erst einmal mit der Faszination vorbei: natürlich war mir bewusst, dass genau wie ich sehr viele Menschen die Landschaftsinstallation besuchen wollen, aber dass es sooo viele sind…. Eine Fähre zur Insel Monte Isola gibt es eventuell erst am Nachmittag, warten auf diesen unsicheren Transfer mag ich nicht, so dass ich mich für den Fußweg nach Sulzano entscheide. 6 Kilometer auf ebener Strecke entlang des Sees  – das sollte doch in einer guten Stunden zu schaffen sein.

Es ist unendlich heiß und ich laufe schon eine guten halbe Stunde, als auf einmal die Straße gesperrt ist und ein Ordner mir wortlos anzeigt, dass ich bitte die Treppen hinauf in die Weinberge gehen möge. Nun ja, er scheint nicht verhandlungsbereit also marschiere ich hoch. Irgendwann auf diesem Weg bergan denke ich an Hape Kerkeling auf dem Jakobsweg und fühle mich wie ein Pilger – ich pilgere tatsächlich zu Christo und seinem aktuellen Werk.

Nach weitere Zeit, in der ich still vor mich hinmotze und froh bin, dass ich mich am Tagesbeginn für festes Schuhwerk entschieden habe, werde ich für meine laufenden Mühen belohnt: eine wunderbare Aussicht ermöglicht mir meinen ersten Blick von oben auf die Floating Piers.

Angespornt von diesem Ausblick laufe ich weiter, irgendwann geht es endlich bergab und ich bin da – und dann doch noch nicht, denn es gilt noch weitere 45 Minuten in glühender Hitze anzustehen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon etwas porös, aber so kurz vor dem Ziel geht es irgendwie dann doch.

Endlich lässt mich der Ordner durch die engen Gassen von Sulzano hindurch auf die Floating Piers treten und ich finde mich wieder in einer bunten Menge von ausgelassenen Menschen, die begeistert auf dem sich wie Wellen bewegenden Steg heraumlaufen, sitzen oder liegen. Wunderbar, was für ein grandioses Werk!

Floating Piers - Christo

Ich laufe gemütlich über den Steg, der das Festland mit der Insel verbindet und schaue dem gleißend glänzenden Spiel des Lichts auf dem Wasser und am Stegrand zu.

Auf der Insel aber ist es noch viel voller und heißer, so dass es selbst mir auf einen Schlag zu viel wird. Ziemlich unglücklich wünsche ich mich heim, fort aus diesen Menschenmassen. Wo ist mein geliebtes Projekt geblieben? Es versinkt unter dem Ansturm der begeisterten Pilger.

Floating Piers - Christo

Es braucht ein bisschen Zeit und die ruhige Besonnenheit meines Begleiters, dass ich mich wieder fangen kann. Im Schatten eines kleinen Olivenbaums lassen wir den Ort und das Treiben auf uns wirken und beschließen, einfach in Ruhe ein bisschen weiterzulaufen in Richtung der langen Stege auf dem Wasser.

Floating Piers - Christo

Angekommen

Dort angekommen ist es etwas ruhiger und es weht ein leichter Wind über den See. Ein paar Motorboote sorgen für Wellen und schon bin ich mitten drin, genieße das Gefühl wie barfuß über das Wasser wandeln zu können, der geänderte Winkel des Sonnenlichteinfalls lässt das vorher gelb wirkende Tuch in wunderbarem Sonnenorange leuchten und ich habe endlich Freude an dieser wunderbaren Installation.

Floating Piers - Christo

Mir kommen die unterschiedlichsten Menschen entgegen, teilweise scheinen sie in anderen Temperatur-Universen zu leben, einige haben Schirme gegen die Sonne dabei, andere haben einen völlig durchgeistigten Gesichtsausdruck aufgesetzt und zwischen all den Christo-Jüngern hopsen Kinder herum.

Floating Piers - Christo

Wieder auf der Insel finden wir nach etwas Suchen ein bisschen Schatten, gönnen uns eine ausgiebige Pause und füllen die Getränkevorräte auf, und ich genieße den Blick auf das Gesamtkunstwerk.  Dabei sinniere ich über die Situation nach:

Ein Kunstwerk für alle sollte es sein – und alle sind gekommen, mir inklusive. Ich lese im Internet, dass weit mehr Menschen die Floating Piers besuchen, als von den Veranstaltern und von Christo angenommen gewesen war. Von den goldenen Stegen ist tagsüber nicht viel zu sehen, schwarz vor Menschen ziehen sie sich wie Ameisenstraßen über den See und über die Insel. Für mich wäre ein Zehntel der Menschen wohl die Wohlfühlmenge für dieses Kunstwerk, aber in der heutigen Zeit sind viele Events vom Erfolg überrannt und verlieren viel von ihrem Zauber in der Menschenmenge.

"Die Bürokraten und Politiker glauben, dass meine Projekte zu viele Menschen anziehen und ein Auflauf entsteht, der sich nicht mehr kontrollieren lässt. Bei einem Projekt, das abgelehnt wurde, ist das klar ausgesprochen worden. Bei meinem Vorhaben im New Yorker Central Park befürchtet man eine Art Woodstock. Ich finde es äußerst aufschlussreich, dass die Repräsentanten unserer so demokratischen Gesellschaft verhindern wollen, dass öffentliche Plätze und Parks von vielen Menschen aufgesucht werden. Die Provokation meiner Kunst besteht darin, dass sie ungewöhnlich viele Menschen aller Schichten anzieht."

Christo

Die Erscheinung

Wir laufen weiter und während ich noch so vor mich hin sinniere fährt auf einmal ein merkwürdiges Boot vorbei, darauf ein älterer schmaler Herr mit weißen Haaren – Christo selber schaut sein Werk vom Wasser aus an! Die Menschen jubeln ihm zu, es ertönen einige Bravo-Rufe. Was mag er fühlen bei diesem Anblick? Freude, Begeisterung, Stolz, Glück, gemischt mit ein paar Tränen der Rührung, dass so viele Kunstliebhaber an den Iseosee gekommen sind? Ich werde weich und wehmütig und bin auf einmal versöhnt mit der Situation – ich hätte mein Leben lang gejammert, wenn ich dieses Projekt nicht gesehen hätte, egal wie hart ich mir die Teilnahme erarbeiten musste.

 

Floating Piers - Christo

Ende gut - alles gut

Der Besuch findet seinen Abschluss in einer netten Trattoria am Hang über Sulzano, von der aus wir noch einmal den Blick über den See und die Floating Piers genießen können. Der Wirt erzählt uns, dass er nur ganz früh morgens über die Stege wandert, wenn der Ansturm noch nicht so groß ist. Ich ertappe mich dabei, dass ich ihn darum beneide. Und im selben Atemzug denke ich an all die Menschen, die nicht wie ich das Glück hatten, hier sein zu können.

Floating Piers - Christo

Credits

Autor: Brigitta Fiesel

 

 

 

Alle Bilder: Brigitta Fiesel, Lago d'Iseo 2016

 Links und Literatur

 

Christo und Jeanne-Claude

Die offizielle Homepage des Künstlerpaars vermittelt einen guten Überblick über die vergangen und die zukünftigen Arbeiten.
www.christojeanneclaude.net →

 

Floating Piers

Eigens für diese Projekt wurde eine Internetseite angelegt, dazu auch die passenden Kanäle auf den Sozialen Medien.

http://www.thefloatingpiers.com →

https://www.facebook.com/floatingpiers/ →

https://twitter.com/floating_piers →

https://www.instagram.com/floatingpiers/ →

 

 Das Buch

Im Taschen-Verlag ist ein Buch erschienen, das die Floating Piers auch nach ihrem Abbau erlebbar macht.

Das Buch zum Projekt →

 

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4 Gedanken zu „Linsenkunst wandelt über die Floating Piers

  1. Wie schön war es, Ihren Bericht zu lesen! Respekt vor dem, was Sie auf sich genommen haben bei der “Pilgerung” zu Christo.
    Wir waren auch dort und hatten es ein wenig einfacher, weil wir Ortskenntnisse von früheren Besuchen hatten.
    Auf jeden Fall ein Jahrhundert-Erlebnis und wir sind so glücklich, dabei gewesen zu sein.
    Danke für Ihre so besonderen Fotos. Die sind wirklich so atmosphärisch und außergewöhnlich.
    Mein bescheidene Knipserei und einen Bericht über unsere Erlebnisse mit und auf den Floating Piers habe ich auf unseren Blog gestellt. Vielleicht mögen Sie mal schauen:
    https://blog.da-sempre.de/2016/06/26/christo-to-go-the-floating-piers-wir-waren-dort/
    Nochmals Danke für Ihre schönen Erinnerungen, die unsere eigenen auffrischen und ergänzen.
    Herzliche Grüße von Sieglinde Graf

    1. Hallo Frau Graf, liebe Sieglinde,
      ja, die Floating Piers sind sicher ganz vielen Menschen in eindrücklicher Erinnerung und ich habe auch mit Freude Deinen Bericht gelesen.
      Was die “bescheidene Knipserei” betrifft ist für mich das vorletzte Deiner Bilder durchaus eine Keimzelle für weitere Entwicklungen, vielleicht gefällt und hilft Dir unser Tutorial zur subjektiven Fotografie:
      https://www.linsenkunst.de/subjektive-fotografie/

      Liebe Grüße
      Brigitta

      1. Danke für den Hinweis auf das tolle Tutorial und für das nette Lob mit der Keimzelle, liebe Brigitta.
        Ja, das Foto gefällt mir auch besonders gut. Aber es wird wohl eine Keimzelle bleiben …
        Bei mir selbst muss Fotografieren schnell gehen, aber ich weiß wohl sehr gute Fotos zu schätzen.
        Darum habe ich ja jetzt auch den Newsletter von Euch und so werde ich immer wieder mal schöne Fotos zu Gesicht bekommen.
        Weiterempfehlen werde ich Eure Seite aber u.a. an unsere Fotografin (Autodidaktin und nebenberuflich), die die Produkt-Fotos für unseren da sempre-Onlineshop macht. Sie macht tolle Naturaufnahmen finde ich. Vielleicht möchte sie mal bei Euch einen weiterführenden Workshop machen.
        Ein schönes Wochenende wünscht Sieglinde Graf

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