Ein Kommentar von Bernd Donabauer
World Press Photo of the Year 2015 - Hope for a New Life
Ich schreibe diese Zeilen, während ich mir immer noch verwundert die Augen reibe, dass ich die Ästhetik der bewegten Kamera und der bewegten Subjekte in der Pressefotografie wieder finde. Dies wird deutlich, wenn ich mir neben dem prämierten Bild die ganze Serie des Fotografen Warren Richardson → anschaue.
Wie in jedem Jahr wird die Entscheidung der Jury in Fachkreisen und dem interessierten Publikum kontrovers diskutiert. Wobei sich in diesem Jahr bei mir der Eindruck verfestigt, dass sich die Diskussion besonders intensiv um das Primat des Dokumentarischen in der Fotografie und einem damit verbundenen Vorwurf der Manipulation durch den Fotografen dreht. Ein anonymer Kommentar zu der Fotografie lautet etwa:
"Das Bild ist für mich ein Versuch, Authentizität zu erzeugen, wo keine zu spüren ist."
Andere Beiträge in der Diskussion nehmen diese Kritik sinngemäß auf und verbinden sie mit dem Vorwurf, dass die vom Fotografen gewählte Bildästhetik nicht die "Wahrheit" zeigt und damit den Betrachter manipuliert. Nun sind aber die Begriffe "Authentizität" und "Wahrheit" genauso zu unterscheiden, wie die Begriffe "Ästhetik" und "Manipulation". Es führt in der Diskussion nirgendwo hin, diese als Synonyme zu verwenden.
Die Kritik der mangelnden Authentizität geht zudem von einer falschen Voraussetzung aus: Das Bild und die Serie sind nicht authentisch sondern ästhetisierend.
Bei der Fotografie handelt es sich um eine Nachtaufnahme, bei der der Situation geschuldet keine künstliche Lichtquelle zum Einsatz kommt. Der durchaus ehrenwerte Versuch, die Fotografie mit den Gegebenheiten ihrer Entstehung gegen den unsinnigen Vorwurf der Manipulation zu verteidigen, ist aber leider genauso irreführend wie der Vorwurf selbst.
Denn wer glaubt, dass diese Form der Bildästhetik des Subjektiven der bewegten Kamera und der bewegten Subjekte ein aus den Umständen entstandenes Zufallsprodukt ist, folgt lediglich dem unreflektierten ersten Impuls der Wahrnehmung. Dieser ist aber nicht nur in der "Fotokunst" sondern eben in der "Fotografie" in ihrer Gesamtheit falsch. Der Fotograf hat hier augenscheinlich die Situation und die von ihm verwendete Kamera und Aufnahmetechnik verwendet, um eben diese Bildästhetik zu erzeugen. Ob der Fotograf dies gezielt und sein Handeln reflektierend zu erzeugen versucht, wovon ich ausgehe, oder nicht, ist dabei von nachgeordneter Bedeutung: Mit der Fotografie und der Serie hat Richardson eine "Ästhetik der Flucht" oder genauer des "Grenzübertritts" geschaffen. Die Szene des Grenzübertritts ist authentisch, ihre Darstellung durch den Fotografen ist es nicht.
Die Fotografie ist eine Inszenierung des Subjektiven, die jedoch gerade nicht die Täuschung des Betrachters zum Ziel hat.
Kritik der Würdigung
Der Ausgangspunkt einer kritischen Würdigung und der Kritik an der Würdigung der Fotografie kann daher auch nicht sein, dass der Anspruch nach dem Vorrang der Authentizität für die Fotografie im allgemeinen Gültigkeit hat. Diese Annahme beruht auf einer all zu naiven Einschätzung des Mediums Fotografie als eine Art "Kopierer der Realität". Vielmehr ist die Frage, ob sie für die Pressefotografie und das Thema eine angemessenen Anspruch darstellt?
Wie immer man sich hier persönlich entscheidet, die Jury hat nun mal ein ästhetisierendes und kein authentisches Bild gewählt. Nur der Vollständigkeit halber sei hier angemerkt, dass natürlich auch ein "knackscharfes" Bild "ästhetisiert" sein kann und dass es sich bei Leibe nicht um das erste World Press Photo of the Year handelt und es sicher nicht das Letzte sein wird, dass der Ästhetik den Vorrang vor der Authentizität, der Inszenierung den Vorrang vor der Dokumentation gibt.
Interpretation
Auch dies vorliegende Fotografie ist nicht selbsterklärend und erzählt von sich aus keine Geschichte. Der Inhalt erhält seine Bedeutung erst durch den konkreten historischen Kontext und seiner Reflexion durch Gedanken, Sprache und Schrift.
Als Symbol einer Grenze ist ein Stacheldrahtzaun zu sehen. Bei näherer Betrachtung sehen wir zwei Männer, die sich jeweils auf der anderen Seite dieser Grenze befinden. Genau auf der Grenze sehen wir die verschwommene Darstellung eins Babys. Der Betrachter kann aufgrund der Darstellung darauf schließen, dass das Baby im Moment der Aufnahme unter dem Stacheldraht hindurch und über die Grenze gereicht wird. Der Fotograf verwendet hierfür eine Bildästhetik, die die Fähigkeit zur Empathie des Betrachters mit den gezeigten Menschen unterstützen soll. Legt man dem hingegen eine Betrachtung auf der Basis geltender Gesetze und Normen zugrunde, zeigt die Fotografie in ihrem historischen Kontext den nach europäischen Normen illegalen Grenzübertritt eines Babys und zwei Menschen, die dabei Beihilfe leisten.
Die Fotografie nimmt daher gerade keinen Bezug auf die lebensweltlichen Erfahrungen von Gewalt, Mord bis hin zum Genozit, Vertreibung und Flucht.
Wenn man es so sehen möchte, ist die Begründung der Jury für die Prämierung, z.B. Francis Kohn "We thought it had almost everything in there to give a strong visual of what’s happening with the refugees." ebenso wie die von Vaughn Wallace "This is an incredible image from the refugee crisis of 2015." →, schlicht ein Etikettenschwindel.
Dies ist kein Bild über die Ursachen der Flucht und die Erfahrungen der flüchtenden Menschen! Dies ist ein Bild, dass die tiefe Krise der Europäischen Union als Werte- und Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck bringt.
Es zeigt den unüberwindlichen und kaum erträglichen Widerspruch zwischen den humanitären Werten einer offenen Gesellschaft und der strukturellen Gewalt der von eben dieser Gesellschaft geschaffenen Normen und Gesetzen im Angesicht von Krieg und Vertreibung der Menschen. Die Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend sind hier nur Mittel zum Zweck. In diesem Sinne ist es aber so was von eurozentristisch, dass einem bei der Begründung der Jury sprichwörtlich die Spucke weg bleibt.
Die Kritik der mangelnden Authentizität der Fotografie hinsichtlich der Ursachen und Erfahrung von Flucht ist also einerseits wohl begründet. Andererseits liegt genau hier die Stärke des Bildes, zeigt es doch in entlarvender Weise den Narzissmus in der Wahrnehmung der westlichen Welt im Angesicht des von ihren Akteuren mit verursachten Elends.
[expand title="Bildquelle"]World Press Photo of the Year
Warren Richardson, Australia, 2015, Hope for a New Life
A man passes a baby through the fence at the Serbia/Hungary border in
Röszke, Hungary, 28 August 2015.
© Warren Richardson - Hope for a New Life.jpg [/expand]
World Press Photo of the Year
Warren Richardson, Australia, 2015, Hope for a New Life →
Webseite des Fotografen
Mit freundlicher Unterstützung von World Press Photo durch die Bereitstellung des Bildmaterial