Linsenkunst lauscht der Poesie der Großstadt

Ausschnitt aus dem Bild „Livrée de nuit (la tapisserie)“ von François Dufrêne aus dem Jahr 1961
Ausschnitt aus dem Bild „Livrée de nuit (la tapisserie)“ von François Dufrêne aus dem Jahr 1961

Was haben abgerissene französische Plakate mit Kunst zu tun?

Um das herauszufinden hat Brigitta im Rahmen unserer persönlichen Besuchsreihe „Sonntags im Museum“ die Frankfurter Kunsthalle Schirn besucht und die Künstlergruppe der Affichisten kennen gelernt.

 

Die Affichisten

Die Bezeichnung „Affichisten“ stützt sich auf das französische Wort „affiche“ = Plakat.

Im Paris der 50er Jahre trafen der Franzose François Dufrêne, der Italiener Mimmo Rotella und der Deutsche Wolf Vostell auf die Franzosen Raymond Hains und Jacques Villeglé, die bereits seit 1945 miteinander bekannt waren und bereits gemeinsame Projekte bearbeitetet hatten. Zusammen entwickelten sie eine Kunstform, bei der sie aus Plakatabrissen, die sie bei nächtlichen Raubzügen durch Paris erbeutet hatten, mittels Décollage avantgardistische Tafelbilder schufen.

Unter dem Titel „Poesie der Großstadt. Die Affichisten“ sind in der Schirn 150 Werke der fünf Künstler versammelt. Dabei reichen die Werke von kleinen skizzenhaften Werken über monumentale Tafeln zu Werken auf Holz- und Metallgrund sowie audiovisuellen Installationen.

 

Und so hat Brigitta die Ausstellung erfahren:

Die „Poesie der Großstadt“ gliedert sich in die Bereiche „Abstraktion“, „Material/Prozess“, „Lettrismus“, „Politik“ und „Pop“, in denen jeweils thematisch passende Werke zusammen gestellt sind. Das gefällt mir und leitet mich gut durch die Ausstellung.

Persönlich finde ich die Bereiche „Abstraktion“ und „Material/Prozess“ am stärksten, da in den hier gezeigten Werken für mich die Idee der Plakatabrisse in Richtung „Zufall“ und „geologischer Sedimentierung“ am besten zum Tragen kommen.

Hier treffe ich auf wuchtige Installationen, bei denen gleich zum Plakat auch noch der Bauzaun mit de- und remontiert wurde (Hains), auf Rotellas Bild mit den sichtbaren Resten von rotem Sandstein mit dem zauberhaften Titel „3000 anni avanti Cristo“, und auf verkohlte Plakatabrisse (Vostell), die die eigentliche Idee der Affichisten auch schon wieder in Frage stellen.

Auch das eindrückliche Werk “Ach Alma Manetro” von Hains/Villeglé, welches als ältester Plakatabriss gilt, wird in diesem Teil präsentiert. Sein langgestrecktes Format und die vielen Wortfetzen in rot/schwarz erinnern mich an einen Werbebanner oder ein Parolenspruchband einer Demonstration.

 

Etwas unscheinbar in grauen Hörkabinen präsentiert kann man verschiedenen Klanginstallationen lauschen, z.B. dem phonetisches Gedicht von Rotella. Wortfetzen vermischen sich mit einzelnen Tönen, Stimmen die wie Kinder die Sprache erforschen und ihrem Klang hinterherhorchen, ein bisschen Dada zwischen den Plakatabrissen.
Mich spricht diese Kunstform sehr an, und da ich während meines Aufenthalts die Einzige bin, die sich dafür interessiert, gönne ich mir in Ruhe das gesamte Gedicht am Stück.

 

„Livrée de nuit (la tapisserie)“

Gleich im ersten Raum begegne ich meinem späterer Lieblingswerk der gesamten Ausstellung, einem imposanten Bild von François Dufrêne aus dem Jahr 1961 (Das Beitragsbild zeigt einen Ausschnitt aus dem unteren Viertel).

Das riesige Bild im schmalen Hochformat besteht aus Plakatabrissen auf Leinwand, wobei die Décollage aus Plakatrückseiten erfolgte.
Warme Braun-, Champagner- und Rosttöne dominieren das abstrakte Werk, bei genauerem Hinsehen finden sich jedoch viele weitere Farbtöne, oft in kleinen Klecksen.

Halt in der großen Fläche erfährt das Auge durch waagerecht verlaufende Knicke, die Spuren des Transports des gesamten Plakatabrisses sein dürften, und senkrechten Linien, die durch einzelne Abrisse gebildet werden.

Am der unteren Bildkante wird die Abstraktion kurz aufgebrochen, dort finden sich Buchstabenreste in Spiegelschrift, deutlich ist ein N zu erkennen.

Tritt man nahe an das Bild heran findet man feine Strukturen, sieht die Vielfalt der Abrisskanten und kann sich in ihnen verlieren und stets neue Formen und Allegorien entdecken.

Mit gebührendem Abstand bekommt das Bild etwas Sakrales, ich fühle mich erinnert an das Grabtuch von Turin oder auch an ein abstrakt gestaltetes Kirchenfenster.
Leicht und ätherisch erscheint es mir, obwohl es doch aus so bodenständigen Dingen wie einfachem Papier und Kleister besteht.

In „Livrée de nuit“ offenbart sich mir die Poesie der Großstadt tatsächlich.

 

Photographies hypnagogiques

Ein Bereich der Ausstellung beschäftigt sich mit fotografischen Experimenten von Raymond Hains, für die er geriffelte Gläser zwischen Kamera und Objektiv montierte und so kaleidoskopartige, psychedelische Bilder entstehen lässt, die er unter dem Begriff „Photographies hypnagogiques“ veröffentlicht.

Hier hat es mir ein kleines Werk in schwarz/weiß angetan.

Ebenfalls hochkant, aber kaum DinA4 groß, schichten sich hier keine Papierabrisse übereinander, sondern Linien und Flächen aus Licht und Dunkelheit, die Rechtecke in verschiedenen Seitenverhältnissen beschreiben, die hintereinander und ineinander verwoben sind. Innerhalb der Flächen und Linien, die teilweise geriffelt sind, zeigen sich ganz unterschiedliche Helligkeitsverläufe, die immer wieder in totale Schwärze absinken.

Obwohl das Bild einer Skizze gleichkommt gibt es für mich viel zu sehen.

 

„Penelope“

Das Verfahren der geriffelten Gläser überträgt Hains zusammen mit Jacques Villeglé auf den Film und beide arbeiten vier Jahre lang an dem surrealen Film „Penelope“, der ebenfalls ausgestellt ist.

Der sicher einzigartige Film ist das dritte Ausstellungsobjekt, welches mir in besonderer Erinnerung bleibt.

In kaum zu beschreibenden Verläufen fließen Farben und Formen, sich stets wandelnd, über die Leinwand. Obwohl streng mathematisch konstruiert erscheinen sie trotzdem wie zufällige Strukturen, abstrakt in ihrer Ausprägung und doch organisch anmutend, die sich verwben und miteinander vernetzen.

Viel zu klein ist mir die Leinwand und im Stehen muss ich auch schauen. Hier hätte ich sehr gerne eine ruhige Ecke mit Sesseln gehabt um mich ganz in die Farbstrudel versenken zu können.

 

Fazit

Keine „große“ Ausstellung, dazu ist mir das Werk der Affichisten insgesamt zu gleichtönig, so dass ich nach für mich ungewöhnlich kurzen eineinhalb Stunden schon wieder in der Sonne stehe.

Betrachtet man aber das Cluster der gezeigten Bilder und Installationen in Bezug zu den kurz darauf folgenden Strömungen (Nouveau Réalisme, Street Art, Pop Art), so erkennt man deutliche Zusammenhänge und Initialzündungen und es wundert schon, dass die Affichisten so unbekannt und selten zu sehen sind.

Ein Besuch in der Schirn lohnt daher trotz Schwächen in der Ausstellungspräsentation.

 

http://www.schirn.de/AFFICHISTEN

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