Ah-Bah! Die Kunst der Bildbetrachtung

Linsenkunst Rhodos 2015 Werkstadtbericht Teil 2

Kunst Basis Fortgeschritten Meisterklasse Bildbetrachtung
Entwicklung Analyse Aufbau Licht Farben Formen Texturen Metazeichen Ikonographie Bezug  Bildsprache
29.12.2016 Brigitta Fiesel

Kunst kommt von Kucken

Bildbetrachtung – das klingt erst einmal ziemlich unsexy. Völlig zu unrecht.

Bildbetrachtung kann extrem lustvoll sein, sie kann genau wie die Bildgestaltung Höhenflüge erreichen, aber auch auf dem Brot- und Butter-Level macht sie einfach Spaß, wenn man einmal das Grundhandwerk erlernt hat.

Und sie ist vor Allem eins: unverzichtbar im Lernprozess der Entwicklung der eigenen Bildsprache.

Wenn ich gelernt habe in Worte zu fassen, was ich einen Bild besonders schön/gut/positiv/bemerkenswert finde, und war mir nicht gefällt/ich anders machen würde/verzichtbar finde, dann kann ich eben diese Erkenntnisse in meinen zukünftigen Fotografien umsetzen.

Also keine Angst - Bange machen gilt nicht. Bildbetrachtung kann ganz einfach sein und lässt sich Stück für Stück in der Komplexität steigern.

Wer sich zum ersten Mal an eine Bildbetrachtung wagen möchte, dem sei "Ah-Bah!→", das von unserem Fotografenkollegen und Bruder im Geiste Roland Vögtli→ entwickelte "angewandte, holistische Bildbetrachtungs-Anleitungs-Hilfssystem" empfohlen. Es ist eine amüsante und leicht verständliche Anleitung zur konstruktiven Bildkritik jenseits von "like!" und "toller Schuss!". Egal ob man wenig oder viel Zeit für die Betrachtung und Kommentierung eines Bilds investieren möchte - Roland hat für jeden Kommentierwilligen einen Fahrplan erarbeitet.

Um die nackte Theorie greifbarer zu machen, habe ich dazu drei Beispiele zusammengestellt, die die Bildbetrachtung in drei Stufen vorstellen: Basis – Fortgeschritten – Meisterklasse.

Alle drei Beispiele sind entlehnt aus „The Good Eye“→.

Bildbetrachtung – Basis

Aller Anfang ist leicht - debei ist es immer eine gute Idee zunächst die eigenen Gefühle und Erfahrungen zu reflektieren. Das Beispielbild zum Einstieg in die Bildbetrachtung ist eine wunderbare Naturfotografie, die aber aufgrund ihrer Aufnahmetechnik Raum für Interpretationen bietet.

Linsenkunst Rhodos 2015 Werkstadtbericht Teil 2

Ich bin sofort im Ried, es ist Sommer, gleißendes Sonnenlicht liegt über der Landschaft, ich jedoch bin im Schatten einiger Bäume, so dass hier die Farben nicht so überstrahlt sind. Bei meiner Rast schaue ich mich um und sehe weiter hinten meinen Weg über eine kleine Brücke weiter gehen. Aber im Moment bleibe ich noch ein wenig hier und genieße die wunderschöne Ansicht und das Spiel des Lichts.

Toll finde ich die Kombination aus "Aquarell" im linken Teil des Bildes und "Pointilismus/Expressionismus" im rechten Teil - wunderschön! Es gibt dem Bild Tiefe und strukturiert es sehr schön.

(Brigitta Fiesel)

Bildbetrachtung – Fortgeschritten

Im Beispiel für Fortgeschrittene stelle ich zwei Bilder vor, die in der gleiche Situation entstanden, aber doch ganz unterschiedlich sind. Beide Bilder zeigen Besucher des Museum Frieder Burda→ vor einem großformatigen Werk von Gerhard Richter. Zusammen mit den passenden Bildbetrachtungen ergibt das ein faszinierendes Kaleidoskop an Wahrnehmungen, in die vergleichende Aspekte einfließen.

Je öfter ich es mir anschaue, umso besser gefällt mir das Bild...

Ich mag ja die Situation des Betrachtens eines Betrachters eh ungemein. Als Fotograf/-in betrachtet man die Szene und den Betrachter, kann wunderbar über die verschiedenen Standpunkte reflektieren.

Was macht die Szene mit dem Betrachter?
Was macht die Szene mit mir?

Versucht sich die Jacke des Betrachters gerade mit dem Bild der Szene zu synchronisieren und scheitert daran?
Vielleicht ist es auch schwer in Worte zu fassen und ruft bei mir "wortlos" ein Lächeln hervor.

(Bernd Donabauer)

Auch hier bin ich wieder verblüfft, wie unterschiedlich eine vermeintlich ganz klare Szene im Endeffekt sein kann: „Museumsbesucher vor Bild“ dürfte doch ziemlich eindeutig umrissen sein und somit kaum unterschiedliche Ergebnisse bringen.

Und doch: diese Besucher sind nicht solche Banausen wie der auf meinem Bild, sie sind in den „Un“farben weiß und schwarz gekleidet, kein merkwürdiges Muster lenkt von den ausgestellten Bildern ab. Sie sind Experten des Meisters, tauchen ganz und gar ein in dessen Kunst, sind eins mit dem Bild und nicht nur Betrachter. Sie nehmen die  Botschaft mit dem ganzen Körper auf, als Paar sind sie ein eingespieltes Besucherteam uns erleben Kunstwerke zusammen und auf gleiche Art und Weise.
Mit tödlicher Sicherheit schauen sie herablassend auf meinen Bildungsbürgerbetrachter herab, ohne sich bewusst zu werden, dass sie selber keinen Deut besser sind – eben nur anders.

Ein paar Aspekte der Unterschiede im Bildaufbau:
-   Mein Besucher ist ziemlich hart freigestellt zum Kunstwerk, dadurch entsteht eine abgrenzende Wirkung. Hier die zwei gehen weich in die Stripes über und erscheinen dadurch mittendrin.
-   Die Jünger nehmen wesentlich mehr Platz ein, behaupten sich dadurch selbstbewusster dem Bild gegen über als mein in die untere Ecker verbannter Mensch, der durch die nach oben gewandte Blickrichtung auch noch das ehrfurchtsvolle Aufsehen zu dem schwer verständlichen Kunstwerk mit seinem Körper darstellt.
-   Bei meinem Besucher sind die Stripes 1:1 darstellt, er erlaubt sich keine Interpretation. Da sind die beiden Evangeliumslauscher deutlich entspannter und trauen sich, den Herrn Richter zu verändern.

(Brigitta Fiesel)

Bildbetrachtung – Meisterklasse

Wer ein Bild zur Betrachtung und Besprechung freigibt, der legt auch ein wenig sein Herz offen. Wenn dann dieses Herz vom Bildbetrachter sorgsam, mit Feingefühl und achtsam aufgenommen wird, dann kann ein Dialog entstehen, der dem Bildgebenden sein Herz noch weiter öffnet.

Bernd reflektiert hier das Bild zunächst mit seinem ganz persönlichen Assoziationen aus Kunst, Musik und seine eigenen lebensweltlichen Erfahrungen. Es schließt sich eine vergleichende Analyse zu Hoppers gleichnamigen Bild an und endet in einer abschließenden Interpretation des Themas und einem politischen Statement.

Das Bild trägt den Namen "Nighthawk" und ist aus der Serie "Hommage an....→" von Brigitta:

Linsenkunst Rhodos 2015 Werkstadtbericht Teil 2
Ahhh, hier kann ich nun wieder nicht aus meiner Haut und werde zunächst vom Titel direkt zu den Nachtschwärmern von Edward Hopper→ geleitet. Vielleicht eines der einflussreichsten Bilder des 20. Jahrhunderts, dass sich durch seine unzähligen Adaptionen und Anspielungen in Malerei, Film und Musik ganz tief in das kollektive Gedächtnis der westlichen Welt gegraben hat. So tief, dass nicht wenige in Europa Helweins Popart "Boulevard of broken Dreams" für das Original halten.

Etwas persönlicher mein Zugang zu dem Thema über die Musik und das Album von Tom Waits "Nighthawks at the Diner→" mit dem Lied "Eggs and Sausage→". Wobei das zwei Jahre später erschienene Album "Foreign Affairs→" und das Duett "I Never Talk to Strangers→" mit Bette Middler zumindest für mich die musikalische Interpretation der Beziehung von Frau und Mann auf Hoppers Bild ist.

Und dann die ganz persönliche Erfahrung in meinem Leben aus jener Zeit, in der ich selbst in der späten Nacht kurz vor dem frühen Morgen als "Nighthawk" in jenen "Diners" zu finden war, in denen sich die Barkeeper, Bedienungen, DJs, Musiker und Türsteher nach Feierabend getroffen haben.

So spinnt sich ein Beziehungsgeflecht zu deinem Bild Brigitta, noch bevor ich es mir angeschaut habe...

Aber bleiben wir noch einen Moment bei Hopper und seinen Nighthwaks. Während bei Hopper die Farbe die einzelnen Bildelemente verbindet, ist es das Licht, welches die inneren und äußeren Räume gliedert und voneinander trennt. Dabei scheint alles Licht von dem Innenraum des Diner auszugehen und sich dann zunehmend in der Nacht zu verlieren. Der Einfluss der Impressionisten auf Hoppers Werk ist hier aus meiner Sicht deutlich zu erkennen. Letztlich ist Hoppers Bild aber eben keine "Lichtstudie", nicht einmal eine Studie über persönliche Beziehungen. Beides dient dazu eine Stimmung über einen gesellschaftlichen Zustand in der Zeit zu vermitteln. Hopper ist hier tatsächlich Chronist eines historischen Momentes, die Einsamkeit des Menschen in der Großstadt nur das vordergründige Thema. Für mich drückt das Bild vor allem die Ratlosigkeit am Ende einer Epoche aus. Da sind die letzten Gäste zurück geblieben, die gerade erst realisieren, dass das Fest vorüber ist. Schon bald wird das strahlende Licht der Neonröhren durch staatliche verordnete Verdunklungsmaßnahmen abgelöst - Amerika befindet sich seit wenigen Tagen in dem Krieg, der bereits seit zwei Jahren die Welt verwüstet. Wenn eine fundamentale Krise lange genug existiert und einen selbst kaum betrifft, ist die plötzliche Präsenz der Bedrohung umso überraschender und verstörender.

Nun habe ich mir aus meinem persönlichen Bezug heraus also einige Vergleichspunkte gewählt, um mich deinem Bild zu nähern Brigitta: Sujet, Farbe, Licht, menschliche Beziehungen und gesellschaftliche Zusammenhänge.

Aus Hoppers Diner ist bei dir eine Bar geworden. Keine von jenen Bars, in denen sich am frühen Morgen die letzten Gäste aus Suff und lauter Langeweile einer Schlägerei hin geben. Eine von jenen trendigen Bars für die gerne das Wort "Lounge" verwendet wird und die Namen wie "Rick's" oder "Bar jeder Vernunft" tragen. Sauber, ja geradezu freundlich und durchaus typisch für unsere Zeit, in der selbst eine Bar eine rauchfreie Zone ist. Vorbei die Zeiten billiger Trinks in billigem Ambiente - hier wird edel getrunken und gehobener Lifestyle gepflegt.

Auch dein Bild wird zunächst durch das Licht gegliedert. Warm, in Orangetönen, von links nach rechts nur unmerklich von Dur nach Moll wechselnd - innerhalb. Fast Schwarz, mit einem Hauch der Erinnerung an das Orange - außerhalb. Die Lampenreihe setzt Akzente, nur um sich an der Decke in der Reflexion zu verlieren. Und natürlich das Licht der Punktstrahler im Hintergrund, die "hier, hier" rufen. Es sind diese Lichtelemente, die das Bild zunächst grundlegend gliedern, noch bevor die starke Rhythmik der Objekte im linken Panel einsetzt. Und auch hier werden die Objekte von dem Licht durchdrungen, erhalten von ihm eine zusätzliche Dynamik. Im rechten Panel verliert sich diese Dynamik und weicht mit dem kühleren Licht kühleren Erdfarben.

Dort finden wir unsere Nachtschwärmerin. Alleine, nicht einmal mehr in einer mehr oder weniger zufällig zusammen gefundenen Gruppe. Selbst der Barkeeper, die ordnende Instanz und der letzte mögliche Gesprächspartner ist in dem Bild abwesend. Den Versprechungen einer sehr geschickt in Szene gesetzten Konsumwerbung bereits abgewandt. In ihrer unentschlossenen Ratlosigkeit gefangen, denn auch hier ist wie in Hoppers Bild kein Ausgang erkennbar.

Die Flaschen voller Alkohol locken in warmen Licht mit dionysischen Verheißungen und doch lässt sich das Gefühl Zeuge einer erneuten Zeitenwende zu sein nicht mehr verdrängen. Wenn Europa zerbricht, wird es auch hier vorbei sein mit dem hippen Leben, den edlen Bars und dem gehobenen Lifestyle.

(Bernd Donabauer)

Credits

Autor des Beitrags: Brigitta Fiesel

Bilderquellen von oben nach unten:

Bernd Donabauer, A waking dream of life and light, Hessisches Ried, 2011

 

Brigitta Fiesel, Pattern, 2014

Bernd Donabauer, Das Evangelium des Gerhard Richter, 2014

 

Brigitta Fiesel, Nighthawk, 2012

Beitragsbild: Brigitta Fiesel, Nighthawk, 2012

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